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Neue Heilwissenschaft

Louis Kuhne, Leipzig 1896

 

Was führte mich zur Entdeckung der neuen Heilkunst?
Von Louis Kuhne.


Was führte mich zur Entdeckung der neuen Heilkunst?


Vortrag von Louis Kuhne.

Verehrte Damen und Herren!

Es liegt in der menschlichen Natur begründet, dass jeder, der etwas Neues, Eigenartiges gefunden zu haben glaubt, einen unwiderstehlichen Drang empfindet, seine Entdeckungen festzuhalten, um sie schliesslich den Mitmenschen mitzuteilen.

Wohl mögen Ehrgeiz und Eitelkeit ihr Teil an diesem Streben haben, im innersten Kerne ist es ein durchaus berechtigtes und echt menschliches. Die Wahrheit muss man verkündigen, mag man sonst auch jeden Schein und Glanz fliehen und das geschäftige Getriebe der Welt noch so lästig und eitel finden. Diesem Naturgesetze beuge auch ich mich, indem ich versuche, die von mir in heisser Arbeit eines Vierteljahrhunderts gefundenen Ergebnisse Ihnen mitzuteilen. Freilich vorsichtiger wäre es, wenn ich meine Entdeckungen nur der getreuen Schrift anvertraute und erst die Nachwelt zum Urteile aufriefe. Allein es handelt sich bei der Sache, der ich mein Leben geweiht, nicht um blosse reine Erkenntnis, sondern neben ihr und aus ihr folgend, um Thaten, um praktische Verwirklichung des Erkannten.

Will ich also meine Lehre der Mit- und Nachwelt erhalten, will ich nicht mit dem Rufe eines "Pfuschers" sterben, so bin ich gezwungen, durch Unterricht, durch Demonstration an lebendigen Modellen, die von mir entdeckten Wahrheiten zu entwickeln, zu beweisen und anderen bekannt zu geben.

Hier in dieser grossen Versammlung verbietet sich allerdings das Vorführen kranker Personen, und ich muss mich daher lediglich damit begnügen, Ihnen meine Anschauungen, so gut es geht, durch Worte darzulegen. Zunächst lassen Sie mich kurz ausführen, wie ich zur Aufstellung meines Systems gelangt bin.

Von jeher hatte ich eine ganz besondere Liebe zur Natur, so dass es für mich keine grössere Freude gab, als draussen in Feld und Wald die Vorgänge zu beobachten, durch welche das Gedeihen von Pflanzen und Tieren bedingt wird, und ferner das Wirken der grossen Mutter Natur an Erde und Himmel zu verfolgen, ihre Gesetze zu erkennen und festzustellen. Daneben trieb es mich zu hören, was tüchtige Forscher, wie der Professor Rossmässler, gefunden hatten, und das alles lange Zeit, bevor ich nur daran dachte, mich speziell der Heilkunst zuzuwenden. Ihr hat mich erst die gewaltige Gebieterin, die Not, zugetrieben, die Lehrerin und Erzieherin der Völker und des Einzelnen.

Als ich zwanzig Jahre überschritten, wollte mein Körper nicht mehr vollkommen seinen Dienst verrichten, die Lunge und der Kopf begannen heftig zu schmerzen. Anfänglich suchte ich Hilfe bei der Schulmedizin, aber ohne Erfolg. Auch war mein Vertrauen zu ihr gering. Hatte doch meine Mutter, die Jahrzehnte lang siech und elend war, immer und immer wieder uns Kinder vor den "Doktoren" gewarnt und gesagt, dass nur sie ihren Jammer verschuldet, und war doch mein Vater unter den Händen der Mediziner am Magenkrebs zu Grunde gegangen. Da las ich im Jahre 1864 von einer Versammlung der Freunde der Naturheilkunde. Ich wurde aufmerksam, und als ich zum zweiten Male die Annonce sah,-ging ich in die Versammlung. Es war der Kreis wackerer Männer, welche sich um unseren unvergesslichen Meltzer versammelt hatte. Ganz bescheiden fragte ich einen der Anwesenden, was ich wohl gegen Lungenstiche, an denen ich gerade litt, thun müsse. Ganz bescheiden, denn meine ständige nervöse Aufregung war so gross, dass ich unmöglich vor mehreren Personen laut hätte sprechen können. Er verordnete mir einen Umschlag, der auch sofort vortreffliche Dienste leistete. Von da ab blieb ich ein ständiger Besucher jener Versammlungen. Einige Jahre danach, es war im Jahre 1868, würde mein Bruder ernstlich krank, ohne dass die Naturheilkunde, so wie sie damals war, ihm helfen konnte. Da hörten wir von den erfolgreichen Kuren Theodor Hahn's auf der Waid. Mein Bruder entschloss sich, dorthin zu gehen, und er kam nach wenigen Wochen viel gebessert zurück. Auch ich sah die Vorzüglichkeit des dort gebräuchlichen Naturheilverfahrens ein und wandte mich ihm bereits damals mit vollster Überzeugung zu.

Inzwischen hatte mein Leiden nicht stille gestanden. Die von den Eltern überkommenen Krankheitskeime hatten fortgewuchert, zumal durch die frühere medizinische Behandlung den alten Krankheiten neue Krankheitsursachen hinzugefügt worden waren. Mein Zustand wurde allmählich schlimmer und schlimmer, bis er zuletzt schier unerträglich war. Im Magen hatte sich der vererbte Magenkrebs eingestellt, die Lunge war teilweise zerstört, die Kopfnerven waren so mitgenommen, dass ich nur noch draussen in freier Luft Ruhe fand, an ruhiges Schlafen und Arbeiten aber gar nicht zu denken war. Heute darf ich es sagen, so wohlgenährt und rot ich damals aussah, ich war durch und durch ein armer Lazarus. Dabei that ich alles auf das genaueste, was die Naturheilkunde verordnete. Bäder (Wasser- und Sonnenbäder), Packungen, Klystiere, Douchen, Diät, kurz, alles, alles wandte ich an, ohne doch mehr als Erleichterung und Milderung meiner Schmerzen zu finden. Da entdeckte ich durch Beobachtung in der freien Natur die Gesetze, auf welchen das von mir geübte und gelehrte Heilverfahren beruht. Auf sie gründete ich zunächst für mich selbst meinen Heilplan, und dann konstruierte ich die dazu zweckmässigsten. Geräte. Der Versuch glückte. Mein Zustand besserte sich von Tag zu Tag. Auch andere, die meinen Rat befolgten und dasselbe Verfahren beobachteten, waren zufrieden. Die Apparate bewährten sich vortrefflich. Die Diagnosen vorhandener (empfundener), die Prognosen zukünftiger, von den Betroffenen noch nicht bemerkter, aber in den Anlagen bereits sichtbarer Krankheiten trafen regelmässig zu. Ich durfte sicher sein, dass meine Entdeckungen keine blossen Selbsttäuschungen seien. Indessen, wenn ich davon sprach, begegnete ich ungläubigem Staunen, gleichgültiger Ablehnung, höhnischer Zurückweisung; und das nicht bloss bei Medizinern oder Medizingläubigen, sondern auch und vor allen Dingen bei Anhängern der Naturheilkunde, ja sogar bei ihren vortrefflichsten Vertretern. Ihnen hatte ich, um meine Entdeckungen der Menschheit nutzbar zu machen, meine Apparate unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Sie schoben sie ohne ernstlichen, ehrlichen Versuch als unbrauchbar in den Winkel, wo sie unter Staub und Spinnweben vermodern mochten.

Da kam es mir zum Bewusststein, dass es nicht genüge, die Theorie der Entstehung und des Verlaufs der Krankheit und ihrer Heilung gefunden und danach geeignete Gerätschaften zur Behandlung der Kranken hergestellt zu haben, dass es nicht genüge, eine neue untrügliche, auf dem Wesen des Organismus selbst beruhende Diagnose und Prognose entdeckt zu haben, dass es nicht genug sei, an mir selbst, meinen Angehörigen, Freunden und Bekannten die Erfolge des neuen Heilverfahrens zu zeigen. Es wurde mir klar, dass ich mich mit meinem Verfahren an das grosse Publikum selbst wenden und durch handgreifliche Erfolge in ungezählten Fällen Allopathie, Homöopathie und bisherige Naturheilkunde übertreffen müsse, um bei hoch und niedrig die Überzeugung von der zweifellosen Richtigkeit, von der Naturgesetzlichkeit meines. Verfahrens hervorzurufen.

Diese Einsicht warf mich in einen schweren Kampf. Denn wenn ich mich der Ausübung der neuen arzneilosen und operationslosen Heilkunst widmen wollte, so musste ich meine, seit 24 Jahren mit gutem Erfolg betriebene Fabrik aufgeben und anderen überlassen, um meine ganze Kraft einem neuen Berufe zu widmen, der mir doch zunächst nur Hohn, Beschimpfung und sichere Verluste, aber keinen materiellen Vorteil bringen konnte. Jahrelang schwankte der Kampf zwischen dem Verstande, der mich zurückhielt, und dem Gewissen, das mich zur Erfüllung meines inneren Berufes trieb.

Am 10. Oktober 1883 eröffnete ich endlich die Anstalt. Die Idee hatte gesiegt. Aber reichlich, ja fast im Übermaass trat ein, was ich vorausgesehen. In den ersten Jahren wurde die Anstalt fast gar nicht besucht, obgleich einige Erfolge erzielt wurden, welche wohl die Aufmerksamkeit hätten auf sie ziehen sollen. Danach kamen allmählich zuerst einfache Badegäste, dann mehr und mehr Kurgäste. Mit der Zeit wuchs der Besuch, insbesondere auch von ausserhalb und zwar namentlich deshalb, weil fast jeder bei mir Behandelte zu einem freiwilligen Verkünder und Agenten wurde. An vielen Hunderten hatte sich meine Heilweise und Diagnose bewährt, und viele konnte ich durch das Vorauserkennen künftiger Krankheiten vor schweren Gefahren bewahren. Gerade hierauf lege ich den grössten Wert. Denn allein dadurch wird es uns möglich, wieder ein wahrhaft gesundes Geschlecht zu schaffen.

Meine Entdeckungen haben sich in jedem einzelnen Falle bestätigt, meine Erfahrungen sind mit den Jahren selbstverständlich wesentlich reicher geworden, und meine eigene Gesundheit, welche fast aussichtslos darniederlag, ist gerade durch konsequente Anwendung des neuen Verfahrens so sehr gebessert, dass ich mich jetzt den Anstrengungen einer ausgedehnten Praxis vollauf gewachsen fühle. Das ist aber nur möglich gewesen, weil ich schliesslich nach vielem Nachdenken eine vervollkommnete Art des Sitzbades fand, die so wirksam ist, dass ich mit Sicherheit jede Krankheit, möge sie einen Namen haben, welchen sie wolle, für heilbar erklären darf. Jede Krankheit, sage ich, nicht jeden Kranken. Denn wessen Organismus schon gar zu sehr zerrüttet ist, wer insbesondere durch langen Gebrauch von Arzneimitteln schon gänzlich durchgiftet ist, dem vermag mein Verfahren wohl Linderung und Milderung seiner Schmerzen, aber nicht immer Rettung und vollständige Heilung zu bringen.

Ich trete vor Sie, meine Damen und Herren, mit dem freudigen und stolzen Bewusstsein, dass, nachdem ich fast ein Vierteljahrhundert hindurch mit dem Verderben hart gerungen, ich mich selbst gerettet und dabei zugleich zum allgemeinen Wohle den lange und von den ausgezeichnetsten Geistern gesuchten Weg zur wirklichen Beseitigung von Krankheiten gefunden habe. Wohl klingen diese Worte wie Eitelkeit und Selbstüberhebung; das Experiment hat aber in jedem Falle, auch da, wo es mir nicht vergönnt war, Rettung zu bringen, meine Theorie durchaus und in jeder Weise bestätigt.

Was mich zu meinen Entdeckungen geführt hat, ist die strengste, auf sorgsamster Beobachtung, Urteil und planmässigem Experiment aufgebaute Experimentalmethode. Und wenn man mich doch einen "Pfuscher" heisst, wenn man mir die fachwissenschaftliche Ausbildung zur Ausübung meines gegenwärtigen Berufs abstreitet, so nehme ich das mit vollkommener Ruhe und unerschütterlichem Gleichmut hin. Sind doch selbst die grössten Wohlthäter des Menschengeschlechts und besonders die grossen Entdecker und Erfinder, fast samt und sonders Pfuscher und Unzünftige gewesen, ganz zu schweigen von dem Bauer Priessnitz, dem Fuhrmann Schroth, dem Theologen und Forstmann Francke (Rausse), dem Apotheker Hahn, welche mit hellem Geiste und starkem Willen eine neue bessere Heilwissenschaft geschaffen.

In welchem Verhältniss steht die neue Heilkunst zu der überlieferten Heilweise der Allopathie, der Homöopathie und der bisherigen Naturheilkunde?

Ich beabsichtige eine Kritik dieser Heilmethoden nur soweit zu geben und ihre Fehler und Schwächen, die ihnen, wie jedem menschlichen Dinge anhaften, auch nur soweit in das rechte Licht zu stellen, als dies zum Wohle der Menschheit und zur klaren Auffassung meiner Darlegung notwendig ist. Möge jeder annehmen und treiben, was er für das Beste hält. Aber es ist zum Verständnis des von mir Gebotenen notwendig zu wissen, in welcher Beziehung es mit dem Bisherigen übereinstimmt, inwiefern es abweicht, um danach seine Eigenart, seinen absoluten oder relativen Wert zu bestimmen.

Mit der Allopathie hat die neue arzneilose und operationslose Heilkunst nur das Eine gemeinsam, dass ihr Gegenstand der menschliche Körper ist. Im übrigen gehen ihre Ziele und ihre Mittel um eines Himmels Weite auseinander. Ja, ich betrachte die ganz besonders in neuerer Zeit zunehmende Vergiftung der Menschen durch die Arzneimittel der inneren Medizin als eine, wenn nicht die Hauptursache, der schier unheimlichen Erscheinung, dass es fast keinen wahrhaft gesunden Menschen mehr giebt und sich die chronischen Krankheiten in erschreckender Weise mehren. Die Chirurgie wird durch richtige und rechtzeitige Ausübung der neuen Heilkunst gänzlich überflüssig.

Die Homöopathie begrüsse ich als eine wackere Mitkämpferin gegen den verderblichen Arzneimittelglauben. Sie ist durch ihre kleinen Arzneigaben, in denen die Chemie keine Arzneistoffe mehr zu entdecken vermag, und durch die Sorgfalt, welche sie auf die Wahl der richtigen Diät, verwendet, ein Übergang, eine Vermittelung zur arzneilosen Heilkunde; doch fehlt ihr ein festes, klares Prinzip in bezug auf die Diät, und auch ihre kleinen Arzneigaben sind nach meinen Erfahrungen nicht ganz unschädlich.

Die bisherige Naturheilkunde, welche die übrigen Heilweisen bei weitem überragt, ist die Grundlage der neuen arzneilosen und operationslosen Heilkunst. Dabei habe ich aber mehr an die grossen Entdecker und Begründer des Systems: Priessnitz, Schroth, Rausse, Theodor Hahn mich anschliessen müssen, als an die neueren Vertreter. Bei ihrem übermässigen Eifer des Individualisierens laufen letztere Gefahr, in Künsteleien zu verfallen, von dem klaren und einfachen Wege der Natur abzuweichen. Der bisherigen Naturheilkunde fehlte die Einsicht in die Eigenart, das Wesen des Krankheitsstoffes und die Erkenntnis des Naturgesetzes, nach welchem er sich im Körper bewegt und an gewissen Stellen ablagert, mit anderen Worten, es fehlte die Erkenntnis des wahren Wesens der Krankheit, und somit aller Krankheiten; die Erkenntnis jenes schon immer dagewesenen, aber bis jetzt noch unerkannten Naturgesetzes, auf welchem allein meine Entdeckungen basieren. Ferner behilft sie sich mit der Diagnose der Schulmedizin, wiewohl freilich bekannt ist, dass sie einer solchen "genauen" Diagnose gar nicht bedarf, steht also noch mit einem Fusse im alten Lager. Die neue Heilkunst lehrt dagegen eine andersartige, aus der Natur der Krankheit selbst folgende, äusserlich schon aus Gesicht und Hals zu schöpfende Diagnose, die Gesichtsausdruckskunde.

Die Naturheilkunde gebietet über einen reichen Schatz von Anwendungsformen des Wassers: Packungen, Klystiere, Douchen, Brausen, Halbbäder, Vollbäder, Sitzbäder, Dampfbäder in verschiedenen Arten. Diese vielen Heilmittel beweisen sich bei Einsicht in das wahre Wesen der Krankheit als teilweise überflüssig und verwirrend. Die neue Heilkunst vereinfacht die Anwendung des Wassers auf das äusserste.

Während bei der bisherigen Naturheilkunde mindestens vielfach die Diät unbestimmt und willkürlich sich der überlieferten gemischten Kost anbequemte, hat die neue Heilkunst eine auf naturgesetzlicher Grundlage beruhende, genau und klar umgrenzte reizlose Ernährungsweise vorgeschrieben.

Sie sehen, die Abweichungen von der bisher üblichen Naturheilkunde, welche, ich wiederhole es noch einmal, ganz Vortreffliches geleistet hat und leistet, sind so gross, dass ich meiner Theorie und Praxis wohl mit Recht einen neuen Namen — den der neuen arzneilosen und operationslosen Heilkunst — beilegen durfte.

Ich kann Ihnen nicht alle die einzelnen Versuche schildern, die ich angestellt habe, ehe mein System zu seinem Ausbau gelangte, das wäre wohl für manchen zweifellos interessant, würde aber doch nicht von praktischem Nutzen sein. Es ist ja gerade ein besonderer Vorteil, wenn man direkt aufs Ziel los gehen und die vielen Irrwege vermeiden kann, die vor Auffindung desselben alle durchwandelt werden mussten.

Wenden wir uns daher nach diesen einleitenden Worten der Sache selbst zu.

Die Grundfrage, die ich zunächst erörtern muss, und auf welche sich die ganze Heilweise gründet, ist die: "Welcher Körper ist gesund und welcher nicht?" Die landläufigen Ansichten sind sehr verschieden. Wer hätte nicht schon darin Erfahrungen gemacht. Da behauptet der eine, er sei ganz gesund, nur ein wenig Rheumatismus plage ihn, ein anderer will nur an Nervosität leiden, sonst ist er die Gesundheit selbst, gerade so, als ob der Körper aus einzelnen Abteilungen bestände, die gegen einander völlig abgeschlossen wären und kaum in Verbindung ständen. Eigentümlicherweise wird diese Ansicht durch die übliche Heilweise gestützt. Denn diese arbeitet vielfach nur an einzelnen Organen und berücksichtigt mitunter kaum die Nachbarorgane. Und doch ist es zweifellos klar, dass der ganze menschliche Körper ein einheitliches Ganzes ist, dessen Teile in fortwährender Wechselbeziehung stehen, so dass die Erkrankung eines Teiles einen Einfluss auf andere Teile haben muss. Dass dies so ist, können Sie täglich beobachten. Haben

Sie Zahnschmerzen, so sind Sie fast zu jeder Arbeit unfähig, und es schmeckt Ihnen weder Speise noch Trank. Ein Splitter im kleinen Finger hat ähnliche Wirkung, ein Druck in der Magengegend nimmt uns jede Lust zu körperlicher und geistiger Arbeit Das ist zunächst nur der Einfluss, der sofort durch die Nerven herbeigeführt wird. Aber wir sehen doch bereits, wie die eine Störung sogleich die andere nach sich zieht. Dauert nun eine solche lange, so sind auch die Folgen bleibend, gleichviel ob sie uns immer fühlbar sind oder nicht. Ein Körper kann daher nur dann gesund sein, wenn alle Teile in ihrem normalen Zustande sich befinden und die Arbeit, für die sie bestimmt sind, ohne Schmerz, Druck oder Spannung vollbringen. Die Teile müssen dann aber auch alle die zweckmässigste Form, die ja auch unseren Schönheitsbegriffen am besten entspricht, besitzen. Ist die äussere Form nicht die richtige, so waren Einflüsse vorhanden, die dieselbe abänderten. Es gehören aber vielseitige Beobachtungen dazu, um in allen Fällen bis ins einzelne die Normalform zu bestimmen, namentlich gilt es, wahrhaft gesunde Personen zu suchen, um an diesen die Formen zu studieren. Nun ist aber dies gerade fast zur Unmöglichkeit geworden. Zwar reden wir von gesunden und kräftigen Personen, zwar behaupten viele von sich, zu denselben zu gehören, aber fragen wir genauer nach, so hat doch jeder eine Kleinigkeit, wie er sich ausdrückt, zu erwähnen, einen geringfügigen Schmerz, ein mitunter sich einstellendes Kopfweh, einen dann und wann auftretenden Zahnschmerz oder ähnliche Erscheinungen, die beweisen, dass von vollkommener Gesundheit nicht die Rede sein kann. Es bedarf aus diesem Grunde mannigfacher Studien, um die richtige Körperform kennen zu lernen. Doch gelingt dies durch Vergleiche von kranken und annähernd gesunden Personen, und aus den späteren Darlegungen werden Sie noch klarer ersehen, auf welchem Wege es möglich ist.

Wenn ich Ihnen hier zunächst die Thatsache kurz erwähnte, dass Krankheit die Körperformen ändert, so will ich noch einige bekannte Erscheinungen anführen. Ich erinnere Sie für's erste an die an Fettsucht Leidenden, deren Körper jenen wohlbekannten Umfang annimmt, und im Gegensatz hierzu an die hageren Personen, bei denen fast gar keine Fettablagerung stattfindet, beides unzweifelhaft krankhafte Erscheinungen. Ferner weise ich hin auf den Verlust der Zähne, der das ganze Antlitz verändert, auf gichtische Zustände, bei denen sich Knoten bilden, auf Gelenkrheumatismus, bei dem ganze Körperteile anschwellen. In allen diesen Fällen treten die Änderungen so auffallend hervor, dass sie auch der Ungeübteste erkennt. In anderen Krankheitszuständen fallen sie weniger scharf in die Augen, und doch kann ich Sie noch an manche Erfahrungen erinnern. Sie finden alle, dass ein Gesunder ein ruhiges, klares Auges besitzt, und. dass seine Gesichtszüge nicht verzerrt sein dürfen. Nur wird es Ihnen schwer werden, die Grenze zu bestimmen, wo das Gesicht den rechten Ausdruck gewonnen hat, und Sie werden ohne weiteres zugestehen, dass der eine hierin schärfer sieht, als der andere. So finden wir z. B. oftmals eine Person, die wir vor Jahren sahen, nach dieser Zeit, wie man sagt, sehr zu ihrem Nachteil verändert, ohne dass es bis jetzt möglich war, das Wesen dieser Veränderung genau festzustellen. Und doch haben diese Umbildungen, durch welche der Körper unschöner und hässlicher wird, ihre tiefe Bedeutung, auf die ich noch später zurückkommen werde. Aus dem allen geht schon hervor, dass Krankheiten sich durch Veränderungen des Körpers besonders an Kopf und Hals offenbaren, und dass es eine wichtige Aufgabe ist, die Änderungen zu erkennen und zu deuten.

Ob dies jedem gelingen wird, will ich nicht entscheiden; es gehört grosse Beharrlichkeit und unverdrossene Übung zu diesen Beobachtungen. Wer sich indessen eingehender mit dieser neuen Wissenschaft zu befassen gedenkt, den weise ich auf mein Lehrbuch der Gesichtsausdruckskunde hin, das eine entsprechende Anleitung zur Erlernung derselben bietet.

Heute will ich Sie, verehrte Anwesende, noch auf einen anderen Prüfstein der Gesundheit aufmerksam machen.

Wenn bei jeder einzelnen Erkrankung immer der gesamte Körper beteiligt ist, so können wir auch an jedem Organ den Gesundheitszustand prüfen, wir wählen aber am besten solche, deren Thätigkeit sich recht gut und recht leicht prüfen lässt, und das sind die Verdauungsorgane. Eine gute Verdauung ist ein Zeichen guter Gesundheit, und geht sie Tag für Tag ganz fehlerlos von statten, so ist der Körper auch zweifellos ganz gesund. An Tieren können wir recht deutlich diese Beobachtungen machen. Am besten sehen wir an den Verdauungsüberresten, wie die Verdauung selbst war. Diese müssen in solcher Form ausgeschieden werden, dass eine Verunreinigung des Körpers ausgeschlossen ist. Sie können dies alltäglich an Pferden sowie an Vögeln, die im Freien leben, beobachten. Sie verzeihen, wenn ich dieses delikaten Punktes hier weiter erwähne, aber wenn man über Gesundheit und Krankheit spricht, muss man auch jedes Ding mit rechten Namen nennen.

Das Ende des Mastdarmes hat eine ganz vorzügliche Einrichtung; es ist so gestaltet, dass die Auswurfstoffe, wenn sie im richtigen Zustande ankommen, ohne Schwierigkeit ausgestossen werden, und dabei ist eine Beschmutzung unmöglich. Ich habe mich darüber ausführlich in meinem kleinen Schriftchen "Bin ich gesund oder krank" ausgelassen.

Das Klosettpapier ist eine Errungenschaft der kranken Menschheit, vollkommen Gesunde bedürfen desselben thatsächlich nicht. Man verstehe mich nicht falsch, ich meine nicht, dass jemand, der nicht wirklich gesund ist, nun glauben soll, dass er durch Nichtbenutzung des kleinen Kulturpapieres einen Triumph erzielt hat. — für ihn ist es eben bestimmt, um dem Reinlichkeitsbedürfnis gerecht zu werden. An der Verdauung kann nun jeder leicht erfahren, ob er gesund ist oder nicht, der angegebene Prüfstein ist ein äusserst wichtiger, und ich scheue mich nicht, dies mit vollster Entschiedenheit auszusprechen, ungeachtet aller spöttischen Bemerkungen Ungläubiger.

Wem genannter Prüfstein die Mitteilung macht, dass er völlig gesund ist, den können wir glücklich preisen. Ein Gesunder fühlt sich immer völlig wohl, er weiss nichts von Schmerz oder Unbehagen, so lange ihm nicht von aussen diese bereitet werden; er wird überhaupt nie seinen Körper fühlen. Er ist arbeitslustig und findet an der Thätigkeit Freude, bis er ermüdet ist, und dann kann er die süsse Ruhe wieder in ihrer vollen Annehmlichkeit gemessen. Ihm wird es leicht, seelischen Schmerz zu ertragen, gewährt ihm ja sein Körper auch hierin lindernden Balsam: die Thränen, deren sich in solchen Fällen auch der Mann nicht zu schämen braucht. Ein gesunder Mann kennt nicht die ängstlichen Sorgen um die Familie, fühlt er doch Kraft in sich, für die Seinen zu sorgen. Eine gesunde Mutter pflegt die Ihrigen mit Lust, kann sie doch ihre Lieblinge schon von klein auf in naturgemässer Weise nähren, und wenn nun auch diese völlig gesund sind, welch ein wonnevolles Leben! Auf den Gesichtern derselben strahlt fast immer ein glückliches Lächeln, da sieht man nicht die fortgesetzte Unruhe, hört nicht das viele Nörgeln und Weinen, kurz die Erziehung gesunder Kinder ist eine Freude, zumal bei solchen der erzieherische Einfluss ein viel leichterer und nachhaltigerer ist.

Fassen wir alles Gesagte kurz zusammen: Innerer Drang trieb mich zur Naturwissenschaft, schwere Krankheit und üble Erfahrung mit der Schulmedizin führten mich zur Naturheilkunde; die Erkenntnis, dass auch diese in der bisherigen Gestalt meine sehr schweren chronischen Leiden nicht zu heben vermochte, drängte zu weiteren Forschungen; die unausgesetzte Beobachtung der lebendigen Natur offenbarte mir die notwendige Veränderung der äusseren Gestalt jedes Organismus durch Krankheit, und die Art, wie sich diese Veränderung vollzieht, und wie sie bei Heilung der Krankheit wieder verschwindet, brachte mir die Einsicht darüber, was Krankheit ist und wie Krankheit entsteht.

Die Aufgabe meines nächsten Vortrages wird nun sein, Ihnen diese Resultate meiner Forschungen vorzuführen und Ihnen zu sagen, was nach meiner Erkenntnis Krankheit ihrem Wesen nach ist, wie sie entsteht, welchen Zweck sie hat und wie sie geheilt werden muss.



Achtung!
Dieses Buch ist ein altes Fachbuch, der Inhalt entspricht nicht dem aktuellen Stand der Medizin. Angegebene Therapien entsprechen höchstens dem Stand der Medizin zum angegebenen Druckdatum. Dasselbe gilt für eine ggf. angegebene Rezeptur für ein Medikament. Diese entsprechen nicht dem heutigen Stand der Medizin und sind unter Umständen sogar körperlich schädigend. Die Zubereitung von Rezepturen und die Anwendung derselben gehört in die Hände erfahrener Ärzte und Apotheker.
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16. 4. 1913
Der Arzt Albert Schweitzer trifft in Lambarene ein. Hier baut er in den nächsten Jahren sein Krankenhaus im Urwald auf (Quelle: WDR)

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