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Lehrbuch der GynäkologieOtto Küstner, 4.Auflage 1910 | |
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V. ABSCHNITT. Die Krankheiten der Harnröhre und Blase.Kapitel XXI. Blasenscheiden- und Blasenuterusfisteln. Von Otto Küstner.
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I. Blasen-Scheiden-Fisteln
Kommunikationen zwischen der Blase und den oberen Urethraabschnitten einerseits und der Scheide andererseits werden durch neoplasmatische bezw. infektiöse Prozesse oder durch Verwundungen erzeugt.
Unter ersteren spielt das vorgeschrittene Carcinom der Portio und Cervix, welches auf die Vagina, von hier aus auf die Vesicovaginalwand übergegangen ist, die Hauptrolle. Selten, entsprechend der Seltenheit der Affektion an dieser Stelle, ist der Durchbruch lupöser, ganz vereinzelt der Durchbruch gummöser Herde der Vagina in die Blase. Eine Blasenscheidenfistel sah ich durch ein Esthiomene zustande gekommen.
Unter den Verwundungen gibt es verschiedene Typen. Selten sind Stuprum- und Pfählungsverletzungen des Vesicogenitalseptums beobachtet. Gelegentlich hat einmal ein inkorrektes oder ungebührlich lange liegendes Pessar die Blasenscheidenwand zur Nekrose gebracht (cf. Kap. VI u. VIII). Nicht allzu selten wird in neuerer Zeit die Blasenscheidenfistel als Mißerfolg bei der Totalexstirpation des Uterus, besonders des carcinomatösen beobachtet. Der weitgehende Radikalismus, welchen die abdominale Exstirpation des krebsigen Uterus ermöglicht, führt gelegentlich zu absichtlicher Blasenverletzung. Gelegentlich sieht man Fisteln, welche, nach der Kolpocystotomie, um einer Cystitis willen ausgeführt, besteben geblieben waren. Verletzungen der Blase, welche zu bleibender Kommunikation mit der Scheide führten, sind nach Symphyseotomie und Hebosteotomie beobachtet worden. Auch beobachtet man Fisteln, welche durch Abgleiten oder nicht korrektes Einführen von geburtshilflichen Perforationsinstrumenten, von inkorrekter Anwendung von stumpfen, auch von scharfen Haken (vgl. Fig. 278) entstanden sind; die typische Blasenscheidenfistel aber entsteht nicht durch direkte Verwundung, sondern dadurch, daß der vorliegende Kindsteil während übermäßig lange dauernder Geburt Druckgangrän der Vesicovaginalwand, der Vesicocervicalwand oder beider erzeugt. Wir sehen daher die Blasenscheidenfisteln mit Vorliebe bei engem Becken entstehen, besonders bei allgemein verengtem und allgemein verengtem platten Becken. Von genannten Beckenformen sind es besonders wieder die rachitischen, denn bei diesen prominiert die hintere Symphysenpartie, d.h. die rachitische Anschwellung der Schambeinepiphysen ungleich stärker in Gestalt des charakteristischen Kammes in das Becken hinein, als bei den nicht rachitischen Beckenverengungen. Bei weitem Becken kommen Blasenscheidenfisteln besonders nach verschleppten Querlagen, nach Geburten von Riesenkindern und von Hydrocephalen vor. Von den umfänglichsten Defekten, welche ich gesehen habe, verdanken einige diesen Komplikationen ihren Ursprung.
Fig.278. Enorme Blasenscheidenfistel bei zugleich bestehendem Prolaps. Die ganze Blasenscheidenwand ist gespalten, die hochrote Blasenschleimhaut liegt vor, weist insulare kalkinfiltrierte Stellen auf, ein dicker Katheter in dem erhaltenen unteren Teile der Urethra, zwei dünne in den Ureteren. 46-jährige Frau hat einmal vor 6 Jahren geboren, Perforation und Extraktion mit dem scharfen Haken. Alsbald spontaner Urinabfluß, nach dem Verlassen des Bettes Vorfall. Anfrischen der Fistel durch Spaltung der Ränder, Naht. Heilung. 3 Wochen später Ventrifixur und hintere Kolporrhaphie, danach ist auch der Prolaps geheilt.
Es sind also nicht Fehler auf dem Gebiete geburtshilflicher Kunst, durch welche das Gros der Blasenscheidenfisteln zustande kommt, sondern das Fehlen geburtshilflicher Kunst im kritischen Momente. Die meisten Fisteln wären nicht entstanden, wenn rechtzeitig ein Geburtshelfer zur Stelle gewesen wäre und die Perforation, oder die Extraktion, oder die Wendung des Kindes vorgenommen und so die schwer insultierten Weichteile weiter vor ominösem Druck bewahrt hätte. Die Fisteln kommen daher vorwiegend in Gegenden vor, wo Aerzte und Hebammen fehlen oder selten und schwer zu haben sind; sie sind ausschließlich eine Krankheit der Armen, welche unter den erschwerenden Verhältnissen erst recht nicht in der Lage sind, sich den Luxus ärztlicher Hilfe zu leisten, oder zu ungebildet und voreingenommen sind, es zu tun. Rußland, Polen, Ungarn, Galizien sind die Standorte der Fisteln; aber auch nur in solchen Gegenden, wo enge Becken häufig sind. Während ich in Dorpat in 6 Jahren 23 Fisteln operierte, wo unter der ländlichen Bevölkerung der Ostseeprovinzen enges Becken kaum vorkommt, operierte Fritsch in Breslau in 12 Jahren 200. Fritsch glaubt, daß mit der Zunahme der Bildung und der Aerzte auch hier im Osten die Fisteln abnehmen werden; das wird zweifellos der Fall sein, denn wenn ich in den ersten 7 Jahren meiner Breslauer Tätigkeit über 100 Fisteln operiert habe, betrug die Zahl der in den letzten 7 Jahren von mir operierten nur gegen 80.
Die Entstehung dieser typischen Fisteln manifestiert sich meist unter einem recht charakteristischen Symptombilde. Eine Geburt dauert bei engem Becken oder bei Querlage viele Tage lang. Endlich erfolgt sie ohne oder mit Kunsthilfe; das Kind ist tot, aber die Kreißende anscheinend außer Gefahr; sorglos liegt sie in ihrem Bett; da Urindrang unter solchen Verhältnissen ganz besonders nicht empfunden wird, so bleibt die Blase ungebührlich lange gefüllt, bis auf einmal der Urin unwillkürlich abfließt. War die Vesicovaginalwand durch den lange dauernden Druck zwischen Kind und Becken in seiner Ernährung schon schwer geschädigt, so schlug die lange dauernde Dehnung der Blase schließlich dem Faß den Boden aus, die schwer insultierte Partie barst. In anderen Fällen fließt der Urin schon unmittelbar nach Beendigung der Geburt, es war schon während derselben zu einer vollständigen Durchquetschung gekommen.
Der weitere Verlauf ist selbstverständlich. Nachdem die Wöchnerin einem gewöhnlich schwer fieberhaften Wochenbette erstanden ist, läuft ihr permanent der Urin tröpfelnd ab. Er benetzt die Vulva und die einander zugekehrten Partien der Oberschenkel, setzt in den Schamhaaren Urate ab, welche sich mit diesen verfilzen. Bald bilden sich hier umfängliche Ekzeme; diese, zumal sie ständig von dem tröpfelnden, beizenden Urin benetzt werden, erhöhen die ohnedies schon beträchtlichen Qualen.
Sind die Fisteln klein, liegen sie hoch, liegen sie nahe der Cervix oder im Bereiche dieser, so kann eine gewisse Kontinenz bestehen. Die Kranke kann etwas Urin willkürlich halten und lassen, nur ein Teil läuft ab. Oder der Urin läuft nur beim Liegen ab, wird im Stehen und Gehen gehalten, oder es ist umgekehrt.
Bei vielen Fistelkranken besteht Cessatio mensium und weicht erst nach gelungener Operation.
Der Befund, wie er sich in der Vagina darbietet, ist häufig sehr auffallend. Die Vaginalwände sind starr infiltriert, meist finden sich umfängliche Narben als Ueberbleibsel von Geburtsverletzungen an anderen Stellen, besonders an der hinteren Kommissur. An der vorderen Wand konstatiert man einen größeren oder kleineren Defekt. Ist er groß, so fällt der explorierende Finger sofort in den Blasenrest hinein, auch kleinere Defekte sind als solche schon durch Tastung unschwer zu erkennen. Die Ränder sind meist scharf und dünn, zeigen bei kleinen Defekten gelegentlich eine ziemliche Dislozierbarkeit. Bei großen Fisteln ist die Unverschieblichkeit ganz auffallend; die dünnen, dürftigen Ränder scheinen auf die knöchernen Partien der vorderen Beckenwand festgewachsen.
Die meisten durch Geburt entstandenen Fisteln liegen im Bereiche der vorderen Scheidenwand, lassen Urethra und Cervix unberührt. Andere erstrecken sich auch auf den oberen Teil der Urethra oder liegen nur in diesem Organabschnitt (Urethra-Scheidenfisteln). in anderen Fällen wieder hat der nekrotisierende Druck sich auch auf die untere Cervixpartie (Blasen-Cervix-Scheidenfisteln) erstreckt oder nur auf diese beschränkt (Blasen-Cervixfisteln). Mitunter liegen 2 Fisteln vor. Dann liegen sie stets übereinander.
Bei manchen Fisteln des Blasenhalses fehlt, wenn die quetschende Gewalt sehr lange Zeit wirkte, im Bereiche der Fistel nicht nur die hintere, mit der Scheide verbundene, sondern auch die vordere gegenüberliegende Blasenwand; d.h. die Blase ist in ihrer ganzen Totalität in ein oberes und unteres (Harnröhre) Segment durchgequetscht. Diesen von mir wiederholt erhobenen Befund finde ich in der Literatur bisher nirgends erwähnt. Solche Fälle sind es auch, bei denen die Harnröhre in dem an die Fistel anstoßenden Teil obliteriert zu sein pflegt. Doch kann eine Obliteration auch durch Narbenbildung bedingt sein in Fällen, wo nur die hintere Urethralwand durchgequetscht war.
Die Schleimhaut des Blasenrestes befindet sich fast stets im Zustande hochgradiger Entzündung. Die fortwährende breite Kommunikation mit der Vagina, zumal während der Zeit des Puerperiums, die venöse Stase an denjenigen Partien der Schleimhaut, welche sich bei großem Defekte in diesen hineindrängen, bedingen sie.
Große Fisteln sind, wie gesagt, schon durch Tastung leicht zu erkennen, im Rinnenspekulum sieht man, wie sich ein Teil der vorderen hochroten Blasenwand durch die Fistel in die Scheide vorwölbt; aus kleineren Fisteln sieht man im Rinnenspekulum Urin austreten. Sind die Fisteln sehr klein, so z. B. wenn es sich um Reste nach bereits vorgenommenen Operationen handelt, so entgehen sie leicht dem explorierenden Finger und verkriechen sich hinter einer Falte oder hinter Narbenzügen der vorderen Scheidenwand.
Dann versucht man von der Scheide aus durch die Fistel eine Sonde in die Blase einzuführen, eine andere führt man von der Urethra aus ein, der fühlbare Kontakt beider erbringt den Nachweis des Vorhandenseins einer Fistel.
Findet man von der Scheide aus auf diese Weise die Fistel nicht, so spült man Milch oder Methylenblaulösung in die Blase ein und beobachtet im Rinnenspekulum, wo die Flüssigkeit nach der Scheide zu austritt. Führt das nicht zum Ziel, so ist es nicht unzweckmäßig, die Scheide voll Liquor-ferri-Watte zu stopfen, und in die Blase eine Injektion von dünner Karbollösung zu machen; im Falle des Bestehens einer Fistel findet sich an der entsprechenden Stelle am Tampon ein violetter Fleck.
Die Prognose hängt von der Größe der Fistel ab. Ganz kleine Fisteln heilen gelegentlich spontan. Heilt eine Fistel nicht, so ist die Prognose quoad vitam nicht ungünstig. Viele von den von uns Operierten habe ihre Fistel jahrelang ohne weiteren schweren Schaden getragen. Immerhin ist es die Cystitis, der Folgezustand der Fistelbildung, welche zum Damoklesschwert für die Kranken wird. Die Entzündung kann in die Nierenbecken ascendieren, eiterige Nephritis die Folge sein.
Eine weitere Gefahr für die Kranken liegt in der durch die Fisteln bedingten Disposition zur Steinbildung. Eine ausgebreitete Nephrolithiasis kann durch konsekutive Urämie eine ernste Lebensgefahr involvieren.
Die Prophylaxe deckt sich in der Hauptsache mit einer rationellen Behandlung der Geburt, besonders bei engem Becken. Allzu lange anhaltender Druck des vorliegenden Kindsteils muß durch rechtzeitige Anwendung der Zange, des Perforatoriums oder die Ausführung der Wendung und Extraktion, des Kaiserschnittes oder der Hebosteotomie vermieden werden.
Aber auch wenn bei einer lange dauernden Geburt bereits eine ominöse Quetschung der Vesicovaginalwand stattgefunden hat, kann man durch regelmäßige Entleerung der Blase mittels Katheters in den ersten Tagen des Wochenbettes der definitiven Nekrotisierung der geschädigten. Gewebe vorbeugen. Darauf hat SchultzE nachdrücklich hingewiesen. Ich lege in solchen Fällen auf einige Tage einen Dauerkatheter ein und empfehle dieses Vorgehen nachdrücklich.
Fig.279. Winkelig- gegen die Fläche abgebogene Messer zur Fisteloperation, ein zweischneidiges, zwei einschneidige. 2/3 nat. Gr.
War eine Fistel mit Erfolg operiert, so gefährdet eine künftige Geburt die ßlasenscheidenwand voraussichtlich in dem gleichen oder noch höheren Maße. Dann kommt, falls enges Becken vorliegt, zwecks Konservierung des Operationsresultates künstlicher Abort oder Kaiserschnitt in Frage; ich bevorzugte in einem Falle den letzteren mit Erfolg. Künstliche Frühgeburt und Hebosteotomie sind Fehler.
Entstand bei einer gynäkologischen Operation eine Blasenverletzung, so muß sie sofort gut genäht werden. Vgl. Kap. XIV.
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13. 10. 1821 Rudolf Virchow (1821–1902) wird als Sohn eines Metzgers geboren. Mit 26 Jahren habilitiert er und tritt eine Professur in Würzburg an. Er gilt aufgrund seiner Arbeit als Pathologe als Mitbegründer der modernen Physiologie. |
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