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Lehrbuch der Gynäkologie

Otto Küstner, 4.Auflage 1910

 

I. ABSCHNITT.
Anatomie, Entwickelung und Störungen der Entwickelung der weiblichen Genitalien.

Kapitel III.
Die Entwicklungsstörungen des weiblichen Urogenitalsystems.
Von Otto Küstner.

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Entwickelungsstörungen der Scheide allein.


Während NAGEL die Ansicht vertritt, daß Duplizitäten der Scheide nur dann als Hemmungsbildungen aufzufassen sind, wenn sie mit analogen Entwickelungsstörungen des Uterus gepaart sind, beweist MARCHAND an der Hand eines selbstbeobachteten und einer Reihe in der Literatur niedergelegter Fälle, daß doppelte Vaginen bei einfachem Uterus sehr wohl Hemmungsbildungen sein können und daß für sie die Annahme, daß die doppelte Vagina erst sekundär aus einer einfachen, durch embryonale Entzündungs- und Verlötungsvorgänge, entstanden sei, unzutreffend ist. Diese Mißbildungen würden dann der Gruppe II der obigen Einteilung (S. 28) anzureihen sein.

Nicht selten sind sagittal verlaufende, fleischige, etwa fingerdicke Stege. Auch sie sind Andeutungen von Duplizität, wenn auch für sie bis auf weiteres NAGELS Ansicht eine gewisse Geltung beanspruchen darf, daß sie erst nach Ausbildung des Geschlechtsstranges durch Verklebung der vorderen und hinteren Scheidenwand zustande gekommen sein können. Praktische Bedeutung derartigen Septums bei einer eventuellen Geburt und Therapie wie bei Uterus biforis (cf. oben).

Auch das Kohabitationserschwernis kann die operative Trennung eines solchen Septums notwendig erscheinen lassen.

Die häufigsten Mißbildungen der Scheide bestehen in partiellen Atresien bei sonst normal gebildetem Genitaltraktus. Diese sitzen mit Vorliebe im Bereiche des untersten Teiles der Vagina oder unmittelbar hinter dem Hymen.

Auch die sogenannten "hymenalen" Atresien sind, wie ich schon früher vertrat, fast stets Atresien des untersten Scheidenabschnittes, hinter dem Hymen. Meist liegt ein wohlausgebildeter Hymen mehr oder weniger fest der durch das dahinter gestaute Blut stark verdünnten atretischen Stelle aufgeklebt auf. Sie werden also besser retrohymenale Atresien genannt.


Fig.39. Hymen duplex der M.K., 21 Jahre alt.

Die kongenitale Natur dieser Atresien ist wohl verständlich; auch sie entstehen erst, nachdem der Genitalstrang gebildet ist. Wie die Scheide überhaupt am längsten ein aus dichtgelagerten Zellen bestehender solider Strang bleibt, so kann sehr wohl einmal die unterste Partie nicht die Auflösung der zentralen Zellen erfahren, vom Mesoderm aus Gewebsverstärkung erhalten und solide bleiben. NAGEL, VEIT und R. MEYER halten diese Atresien nicht für "Defektatresien", nicht für Störungen der Entwickelung, sondern für extrauterin durch Entzündung erworben. Das trifft wohl für eine Anzahl zu, nicht aber für alle Atresien, welche sich auf die ganze Vagina oder ihren größten Teil erstrecken, sind nie als Hemmungsbildungen aufzufassen, wenn nicht zugleich Hemmungsbildungen (Duplizitäten) am Uterus bestehen (NAGEL). So sind totale, auf Bildungshemmung beruhende Defekte der Vagina stets mit Uterusbildungshemmungen gepaart (LEWINSKI, Die Atresien der unteren Hälfte der Vagina, ihre Aetiologie und Symptomatologie. Diss. Breslau 1909).

Beispiel: Marie C. aus W., 16 Jahre alt (1897/98 N. 503, N. 799), hat nie menstruiert, kretinhaftes, unentwickeltes Geschöpf, ohne Schilddrüse.

Vor mehreren Monaten ist außerhalb auf einen sich seit einiger Zeit bemerkbar machenden Tumor vom Abdomen aus eingeschnitten, derselbe eröffnet, darauf nach der Blase zu drainiert, nach dem Abdomen zu vernäht worden. Der Inhalt des Tumors war zähfließendes schwarzes, altes Blut. Seit einiger Zeit füllt sich der Tumor wieder.

Exploration in Narkose: Uterus bicornis unicollis, Haematometra duplex, völliger Defekt der Vagina.

Die seinerzeit nach der Blase zu gemachte Oeffnung hat sich wieder geschlossen.

Exstirpation des Uterus vom Abdomen aus wird abgelehnt. Deshalb Kastration, Annähen des früher bereits eröffneten Horns an die Bauchdecken. 14 Tage später Eröffnung des Uterus von diesem Hörn aus. Ausfließen von zähem, schwarzem Blut. Beide Hörner entleeren sich durch diese Oeffnung vollkommen, Wunde schließt sich bald. Nach l und 2 Jahren völliges Wohlbefinden. Uterus als kleiner U-förmiger Körper hinter den ßauchdecken zu tasten.


Fig.40. Doppelte Vagina bei einfachem Uterus. 22-jähriges Mädchen, gestorben an Hirntumor. Beide Vaginen völlig getrennt bis in die unmittelbare Nähe der Portio, wo sie miteinander bei X kommunizieren. Doppelter Hymen. (Verkleinerte Skizze nach einer Zeichnung MARCHANDS.)


Fig.41. Vagina septa, durch Vorziehen mit Hakenzangen anschaulich gemacht; das Septum entspringt vorn hinter der Harnröhrenöffnung, hier beträgt sein Durchmesser 4, an der hinteren Insertion 8 cm. Das Septum weist ein ovales, schmalrandiges Loch auf. 31-jährige Frau, welche einmal abortiert und einmal spontan geboren hat. (LOEBINGER, KÜSTNER-NEISSERS Stereoskop. Atlas.)

Alle diese Atresien treten erst einige Zeit nach der Pubertätsentwickelung in Erscheinung. Erst wenn dem Menstrualblut aus mehreren Menstruationsepochen durch die Atresie der Abfluß versperrt ist, und den Patienten der entsprechende Tumor im Abdomen oder die durch die Spannung auftretenden Schmerzen empfindlich geworden sind, wird konsultiert.

Fehlt die Scheide ganz oder zum großen Teil, so wird der Uterus durch das retinierte Menstrualblut ballonartig aufgetrieben. Findet sich der Verschluß in den unteren Scheidenpartien, oder handelt es sich um sogenannte Atresta hymenalis, so ist es die Scheide, welche zum Reservoir für das Blut wird; sie kann so bedeutend ausgedehnt werden, daß das Scheidengewölbe hoch in den Bauchraum hinauf gedrängt wird.

Während es also bei hochsitzendem Verschluß stets zu Haematometra kommt, so entwickelt sich bei tiefsitzendem meist, jedenfalls zunächst nur Haematocolpos. Der kleine Uterus sitzt oft recht undeutlich fühlbar als kleine Appendix dem Retentionstumor auf.

Zur Diagnose muß die Anamnese hinleiten; dann ist der kombiniert, vom Rectum aus aufzunehmende Tastbefund, außerordentlich symmetrische Lage, ziemlich feste Konsistenz des Tumors, einigermaßen charakteristisch.


Fig. 42. Atresia hymenalis (retrohymenalis). Der Hymen weist eine deutliche Raphe auf, der Verschluß wird auch in diesem, wie in den meisten Fällen nicht durch den Hymen, sondern durch eine mehr oder weniger dicke Gewebsschicht hinter dem Hymen gebildet, welcher der Hymen nur aufliegt. B.K., 14 Jahre alt, hat nie menstruiert, leidet seit Jahresfrist an Schmerzen im Leibe, welche seit einiger Zeit in vierwöchentlichen Intervallen exacerbicren. Es besteht Haematocolpos. Spaltung des Verschlusses 25. Febr. 1878, Ablaufen des dunklen, teerartigen Blutes, Heilung. (Beobachtung aus SCHULTZES Klinik in Jena.)

Die Therapie ist, falls der Verschluß dünn ist und tief unten in der Scheide liegt, sehr einfach. Man spaltet diesen längs und läßt dann das schwarze, eingedickte Blut ausfließen. Das Ausfließen unterstütze man weder durch Verabreichen von Secalepräparaten, noch durch thermische Reize wie Eisblase oder Prießnitz, noch am allerwenigsten durch Injektion irgendwelcher Flüssigkeit in den Blutsack. Das eingedickte Blut ist von Hause aus frei von Spaltpilzen. Zu desinfizieren ist nichts. Man kann durch eine zweckmäßige Vernähung des Schnittes einem späteren Verkleben vorbeugen. War der Verschluß dünnwandig, so setzt ein Bestreichen derWunde mit dem Ferrum candens bereits einen Schorf, unter welchem die epitheliale Behäutung in wenigen Tagen von statten geht.

Ist die Gewebsschicht, welche den Blutsack nach unten zu abschließt, sehr dick, fehlt also die Scheide partiell oder ganz, so ist die Operation komplizierter, kann recht schwer sein. Von einem Querschnitt von einigen Zentimetern Breite aus wühlt man sich mit dem Finger oder mit stumpfen Instrumenten in dem Bindegewebe zwischen Rectum und Blase bis an den Blutsack vorwärts und schneidet oder sticht ihn eventuell mit dem Troikart an.

Das Offenhalten des neugebildeten Kanals ist dann meist sehr schwer Wiederholtes Einführen von Kanülen, wiederholtes stumpfes Dilatieren erweist sich doch schließlich als illusorisch. Das richtige Prinzip ist, durch Schleimhauttransplantation den Kanal auszukleiden oder ein eventuell vorhandenes oberes Scheidensegment an die Winde im Introitus anzunähen.

In denjenigen Fällen, wo die Atresie so hochgradig ist, daß eine Wegbahnung bis zum Uterus nicht möglich, oder der operativ gebahnte Kanal nicht dauernd offen zu halten ist, dabei aber funktionierende, d.h. ovulierende Ovarien vorhanden sind, läßt sich die weitere Ansammlung von Menstrualblut im Uterus durch die operative Entfernung der Eierstöcke verhindern. Dann ist eventuell bei Gelegenheit der Laparotomie die Haematometra mitzuentfernen oder nach oben zu eröffnen und die Oeffnung in die Bauchwunde einzunähen. Besser ist die Entfernung der Haematometra vom Abdomen aus und die Zurücklassung von wenigstens oinem Teil eines funktionierenden Ovariums.

Sagittales Septum des Hymen bei sonst einfachen wohlausgebildeten Genitalien ist häufig. Seine Entstehung ist analog der der in den unteren Scheidenpartien vorkommenden sagittal verlaufenden Septa.

Bei vollkommener Verdoppelung des weiblichen Genitaltrakttis ist der Hymen doppelt. Bei völligem Defekt fehlt der Hymen.

Auf das Vorhandensein eines Hymen bei Aplasie der inneren Genitalien mit Verschluß von Scheide und Uterus habe ich an der Hand von einer Reihe von Fällen aufmerksam gemacht. Auch in solchen Fällen entspricht die Atresie einem sekundären Prozeß, ist nicht ein Solidebleiben der soliden Anlagen.




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Achtung!
Dieses Buch ist ein altes Fachbuch, der Inhalt entspricht nicht dem aktuellen Stand der Medizin. Angegebene Therapien entsprechen höchstens dem Stand der Medizin zum angegebenen Druckdatum. Dasselbe gilt für eine ggf. angegebene Rezeptur für ein Medikament. Diese entsprechen nicht dem heutigen Stand der Medizin und sind unter Umständen sogar körperlich schädigend. Die Zubereitung von Rezepturen und die Anwendung derselben gehört in die Hände erfahrener Ärzte und Apotheker.
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Rückblick
3. 12. 1967
Erste Herztransplantation durch Prof. Christiaan Nethling Barnard, Capetown, Südafrika. Die Operation (am 3. Dezember 1967) wurde in Südafrika durchgeführt, weil sich die US-Behörden zu keiner Genehmigung durchringen konnten. Der Empfänger Louis W. überlebte die Operation einige Tage.

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