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Lehrbuch der GynäkologieOtto Küstner, 4.Auflage 1910 | |
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II. ABSCHNITT. Die Krankheiten der Vulva und Vagina.Kapitel IV. Die Krankheiten der Vulva. Von Otto Küstner.
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Neurosen.Unter Pruritus vulvae verstehen wir ein Symptom recht differenter Krankheiten. Das Jucken in den äußeren Genitalien ist auch qualitativ nicht in allen Fällen ein und dieselbe Empfindung. Bald ist es mehr ein Brennen, bald mehr ein Kitzel, bald eine Mischempfindung. Diese Empfindung ist sehr lästig und kann einen solchen Grad erreichen, daß die Kranken, jegliches Schamgefühl außer acht lassend, unter allen Umständen den Reiz durch ein Scheuern mit der Hand beantworten müssen.
Dieser symptomatischen Auffassung steht die Lehre vom essentiellen Pruritus gegenüber.
V. OLSHAUSEN unterscheidet beide Formen und sieht in letzterer eine Neurose, in den dabei anzutreffenden Veränderungen der Vulvaschleimhaut nur die Effekte des Kratzens, Scheuerns und der konsekutiven mechanischen Insulte. SCHULTZE hält die Schleimhautveränderungen für unwesentlich und sekundär. WEBSTER sieht die Ursache des P. in einer langsam sich entwickelnden Fibrosis, besonders der Nervenendigungen in der Vulva; ähnlich SÄNGER (Vulvitis pruriginosa). VEIT fand öfter eine "entzündliche Parakeratose", eine kleinzellige subepitheliale Infiltration.
Die lokalen Veränderungen der Schleimhaut im Bereiche der Vulva bestehen meist in Rötung und Schwellung; oft sieht man mehr oder weniger tiefe Risse. Die Frage, oh diese Verändertingen primär oder erst Folge des Juckens, Kratzens und sonstigen Malträtierens oder anderweitiger Reize sind, ist jedenfalls bei längerem Bestehen des Leidens nicht mehr zu entscheiden.
Als Ursachen des symptomatischen Pruritus kommen in Betracht beizende Carcinomjauche, ätzender Ausfluß bei eiterigem Uteruskatarrh, bei vernachlässigten Pessaren, Benetzung des Vestibulum bei Diabetes mit zuckerhaltigem oder mit stark konzentriertem (arthritischem) Urin, Sooransiedelung oder Ekzeme im Bereiche der Vulva. Nicht selten findet man den Pruritus als erstes Symptom eines sich entwickelnden Carcinoma vulvae; gelegentlich sieht man Pruritus bei sehr stark entwickelten, ektatischen Talgdrüsen an der Innenfläche des Vestibulum, auch bei falscher Stellung und Richtung der Haare; mitunter sind alte, straffe, leicht platzende, deformierende Damm- und sonstige Vestibulumnarben der Sitz des Juckreizes. Auch Oxyuren kommen in Betracht.
Doch trifft man Pruritus auch bei Genitalerkrankungen, wo der ätiologische Zusammenhang durch den therapeutischen Erfolg zwar exakt zu beweisen, aber schwer verständlich ist (Retroflexio, Retroflexio uteri gravidi. Adnexentzündungen).
Der Pruritus steht in einer Wechselbeziehung zur Onanie. Die willensstärksten Personen können durch den Pruritus gewohnheitsmäßige Onanisten werden; andererseits kann aber eine unmäßig geübte Onanie auch Pruritus zur Folge haben.
Für die Therapie ist es natürlich wichtig, die Ursache des Pruritus richtig zu erkennen. Liegt ein Uteruskatarrh, eine Retroflexion vor, so ist mit der Beseitigung dieser Affektion oft auch der Pruritus gehoben. Bei Soor empfehlen sich Berieselungen resp. Waschungen mit 3-proz. Borlösung. Unter allen Umständen ist größte Reinlichkeit von Bedeutung. Mitunter sind einfache Seifenwaschungen, vom Arzte selbst ausgeführt (P. RUGE), schon von definitivem Nutzen. Handelt es sich um ein Neoplasma, um Akne und besonders um Narben an der Vulva, so ist das entsprechende operative Verfahren indiziert. Die Entfernung der von Aknepusteln dicht besetzten Vestibulumschleimhaut, die Excision von Dammnarben mit folgender Perineoplastik hat mich gelegentlich den quälendsten Pruritus heilen lassen.
Haben wir einen Pruritus ohne nachweisliches anatomisches Substrat, so sind kühle Umschläge mit essigsaurer Tonerde, mit Kresamin (l:1000:400), Bepinselungen mit 10-proz. Karbollösung, mit 10-proz. Cocain- oder Eucainlösung, mit Oleum rusci, Liq. carbon. deterg., mit Mesotan (l auf 2 Ol. oliv.), Ichthyol, Thiol, oder Bestreichen mit Epicarinsalbe (5-10proz.), oder mit Salben aus Teer, Thumenol, Perubalsam, Menthol, die Behandlung mit schwachen galvanischen Strömen zu empfehlen. Aber auch in solchen Fällen hat die Excision der besonders empfindlichen Schleimhautpartieen Heilung gebracht. Als Beruhignngsmittel dienen Suppositorien aus Cocain, Orthoform, Opiumextrakt oder Morphium.
Keinesfalls ist die Allgemeinbehandlung zu vernachlässigen. Roborierende Diät, Kräftigung des Nervensystems, kühle Abreibung, Regulierung des Schlafes, Antipyrin, Pheuacetin, Sulfonal, Trional, Hedonal etc., Bromsalze, arsenhaltige Mittel sind am Platze.
Unter Vaglnisimis versteht man einen Reflexkrampf der quergestreiften Muskulatur des weiblichen Genitaltraktus, des Constrictor cunni, der Perinealmuskulatur, des Sphincter ani und besonders des Levator ani. Dieser Krampfzustand tritt reflektorisch auf, und zwar auf ganz bestimmten Reiz hin; meist auf Berührung eines hyperästhetischen Hymen. Oft ist er mit lebhafter Schmerzempfmdung und konsekutivem Bemühen von seiten der Kranken, dem Reiz auszuweichen, verbunden.
Die zentripetalen Bahnen verlaufen in den Bahnen des Plexus hypogastrieus inferior, welche aus dem Sympathieus und den spinalen Fasern des 2.-4. Sacralnerven stammen. Die motorischen Bahnen sind die Rami musculares der Nervi perinei und clitoridis und des Nervus pudendus inferior (VEIT).
Der Zustand wird vorwiegend bei Jungverheirateten angetroffen; die Kranken konsultieren wegen heftiger Schmerzempfindung bei Kohabitationsversuchen, das Kommentar des Ehemannes lautet dahin, daß die Einführung des Penis in die Genitalien der Frau unmöglich sei.
In den weitaus meisten Fällen macht man bei der Exploration die adäquate Erfahrung. Die Berührung des Vestibulum mit dem Finger löst sofort heftigen Schmerz aus, die Kranke rückt auf dem Uutersuchungslager zurück. Zwingt sie sich mit Aufbietung äußerster Energie, die Einführung des explorierenden Fingers zu gestatten, so fühlt man die harte Zusammenziehung des Constrictor cunni, fühlt von der Vagina aus die Kontraktion der sie kreuzenden Bündel des Levator ani, sieht die Kontraktion dieses Muskels bei Betrachtung der Afteröffnung.
Der Hymen ist meist unverletzt oder zeigt höchstens seichte Einkerbungen, meist ist er recht dick und fleischig. Die mikroskopische Untersuchung des excidierten Hymen läßt die vermutete besonders reiche Ausstattung mit nervösen Elementen, wie ich in einigen Fällen nachwies, vermissen.
Die Frage, ob dieser eigentümliche Krampf ausschließlich vom Hymen ausgelöst wird, oder ob unter Umständen auch andere besonders erregbare Partien der Vulva, Rhagaden, oberflächliche Ulcerationen dieselbe Bedeutung für die Genese des Vaginismus haben, wird verschieden beantwortet, v. WINCKEL u. A. treten für den ausschließlichen hymenalen Ursprung des Vaginismus ein. Darin besteht Stimmeneinheit, daß in den meisten Fällen ein rigider oder empfindlicher Hymen der Ausgangspunkt des Vaginismus ist. Meine eigenen Erfahrungen sprechen zugunsten v. WINCKELS Ansicht.
Ob die Empfindlichkeit des Hymen primär ist, ob dieser erst durch erfolglose Kohabitationsversuche so empfindlich wird, ob er primär zu rigide ist und selbst kräftigen Kohabitationsversuchen trotzt, oder ob die Rigidität nur eine relative ist, d.h. ob die Kohabitationsversuche im gegebenen Falle ungenügend sind, weil beim Manne geschwächte Potenz vorliegt, das sind Fragen, die sich nicht immer beantworten lassen.
Die mitunter angetroffene völlige Unversehrtheit des Hymen, an welchem nicht die geringste Einkerbung zu entdecken ist, scheint dann zugunsten einer primären Neurose zu sprechen.
Unter den prädisponierenden Momenten kann hysterische Anlage eine Rolle spielen; vielleicht hat in manchen Fällen auch eine abnorme Lage der Vulva, derart, daß durch die Kohabitationsversuche die besonders empfindlichen Teile, die Urethral Öffnung, die Clitoris getroffen werden, eine prädisponierende Bedeutung (SCHRÖDER).
Auch während der Geburt kann Vaginismus beobachtet werden (VEIT). Die hochgradige Empfindlichkeit des Hymen kann das Mitpressen und die Geburt des Kopfes verhindern; sie wird durch ein paar Züge Chloroform sofort überwunden.
Endlich gibt es Krampfzustände, welche sich in der Levator-ani-Gruppe und den Muskeln der äußeren Genitalien abspielen, periodisch auftreten, oft recht schmerzhaft, zum mindesten sehr quälend sind, welche aber unabhängig von Kohabitationsinsult oder Geburt auftreten. Mitunter spielt Uteruskatarrh eine ätiologische Rolle.
Beispiel: Frl. A., Lehrerin, 63 Jahre alt, überstand vor 6 Jahren Typhus und hochgradige Blasenentzündung und leidet seitdem an Krampf in der Scheide und im "Darm", der sich auch in das linke Bein fortsetzt. Bei Betrachtung weisen die Genitalien normale senile Verhältnisse auf. Mäßiger Uteruskatarrh. Beseitigung desselben ohne Erfolg. Galvanische Behandlung (cf. unten) 4-5 Wochen lang fortgesetzt, erst täglich, dann seltener. Seitdem sehr bedeutende Besserung; es bestehen noch mitunter Krampfzustände, aber sie sind viel seltener und nicht mehr schmerzhaft. Pat. schläft jetzt, wogegen sie früher fast völlig schlaflos war, fühlt sich kräftiger und gesünder, hat an Körpergewicht zugenommen.
Die Diagnose kann nur durch die Untersuchung und Betastung gestellt werden. Einer besonderen Betonung bedarf es, daß nicht jeder Fall, in welchem junge Eheleute über Nichtreüssieren bei der Kohabitation klagen, Vaginismus ist. Nicht selten spielt Ungeschicklichkeit, Unerfahrenheit des Mannes eine Rolle. In anderen Fällen handelt es sich um absolute oder relative Impotenz.
Die anamnestische Aufnahme hat mitunter eine schwierige Aufgabe gegenüber naiven Unklarheiten und beabsichtigten Unwahrheiten.
Die Therapie kann leichten Fällen gegenüber schon mit einer Belehrung über die Ausübung des Coitus (Einfetten des Penis, vorsichtiges Einführen, Einführen durch die Frau selbst, Hochlagerung des Steißes der Frau) Erfolge aufweisen. Ist der Hymen sehr empfindlich, so kann man sich zunächst darauf beschränken, daß man nach Aufpinseluug von Cocainlösung (5-proz.) erst dünne, allmählich immer dickere Röhrenspecula einführt. "Darauf verwende man einige Sitzungen. Führt das nicht zum Ziele, so gibt die Entfernung des empfindlichen Organs nach meiner Erfahrung die besten Erfolge. In der Narkose wird mit der Schere der Hymen an der Basis bis zur Urethralmündung abgetrennt und die wunde Basis durch einige Suturen vereinigt. Bloße Incisionen in den Hymen sind meist erfolglos. Doch glaubt z. B. VEIT Erfolge mit radiären, aber bis in die Basis dringenden Spaltungen des Hymen und transversaler Vernähung der Schnitte gesehen zu haben. Er schließt an die Operation eine Dilatationskur mittels graduierter Röhrenspecula an, zuerst mit. später ohne Cocainanästhesie. In manchen Fällen war der galvanische Strom (Anode auf den Damm, Kathode auf den Mons pubis) von eklatantem Erfolg (LOMER).
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Achtung! Dieses Buch ist ein altes Fachbuch, der Inhalt entspricht nicht dem aktuellen Stand der Medizin. Angegebene Therapien entsprechen höchstens dem Stand der Medizin zum angegebenen Druckdatum. Dasselbe gilt für eine ggf. angegebene Rezeptur für ein Medikament. Diese entsprechen nicht dem heutigen Stand der Medizin und sind unter Umständen sogar körperlich schädigend. Die Zubereitung von Rezepturen und die Anwendung derselben gehört in die Hände erfahrener Ärzte und Apotheker. |
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16. 10. 1846 Geburtsdatum der modernen Anästhesie
William Thomas Green Morton demonstrierte die erste erfolgreiche Äthernarkose. Der Zahnarzt verwendet bei seiner Operation Schwefeläther. |
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